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Leben
Yoga und Neurodivergenz
Achtsamkeit und Bewegung als wirksame Werkzeuge
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Leben
Achtsamkeit und Bewegung als wirksame Werkzeuge
von Verena
Bestimmt fällt euch rückblickend auf, wie unterschiedlich eure Mitschüler:innen oder Freund:innen früher in der Schule lernten und wirkten. Da gab es die, die alles sofort verstanden und umgesetzt haben. Es fanden sich die ganz ruhigen, leisen, die zuverlässig für sich (und manchmal auch für die anderen) das erledigten, was getan werden musste. Da waren die lauten, zappeligen, die oft unter- oder überfordert waren, in deren Zeugnis immer stand: »Der/die freundliche Schüler:in hätte sich mehr auf den Unterricht konzentrieren sollen.« Es gab die Introvertierten: »Der/die verträumte Schüler:in hätte aktiver am Unterricht teilnehmen können.« Oder die Sportler:innen, die für ihre Leistungen auf dem Sportplatz, am Reck oder mit dem Ball bewundert wurden. Manche Kreative begeisterten gerne offen für ihre Projekte, andere zeichneten lieber in Ruhe für sich (oder beides im Wechsel). Vielleicht habt ihr euch manchmal die Frage gestellt, ob das alles einfach Persönlichkeitsmerkmale sind oder eventuell doch mehr dahintersteckt?
Wenn ihr euch JETZT, als Erwachsene im Familien- und Bekanntenkreis umblickt, könnt ihr dann erkennen, dass sich diese diversen Arten zu sein, zu lernen, zu arbeiten, zu leben bis ins Erwachsenenalter weiter fortsetzen? Und dass die meisten von uns einfach gelernt haben, auf die eine oder andere Weise damit umzugehen? Warum kann Yoga ein unterstützendes Werkzeug sein, wenn es mal nicht so einfach läuft?
Der soziale Begriff »Neurodiversität« wurde erstmals 1997 von der australischen Sozialwissenschaftlerin Judy Singer verwendet. Sie forschte hauptsächlich zum Thema Autismus und wollte mit der Einführung dieser Bezeichnung eine Art »neurologisches Selbstbewusstsein« schaffen – weg von dem Bild einer Störung, hin zu der Tatsache, dass es ganz viele Varianten von »Brains« gibt, die unser individuelles Verhalten und Denken beeinflussen. Neurodiversität als Begriff kann man sich wie einen Schirm vorstellen, unter dem sich sowohl neurotypische, als auch neurodivergente Menschen vereinigen – er ist inklusiv gemeint und betont die Vielfalt (Bedeutung des lateinischen Wortes).
»Neurodivergenz« ist also eine Teilmenge des ganzen neurodiversen Spektrums. Zu den neurodivergenten Personen zählen (je nach Definition) z.B. Menschen mit Diagnosen wie Autismus, AD(H)S, Dyskalkulie, Legasthenie, Dyspraxie oder Hochbegabung.
Zur Info: Das Konzept der Neurodivergenz wurde 2011 im Rahmen des National Symposium on Neurodiversity geprägt. Es wird innerhalb der Medizin kontrovers diskutiert.
Meine Beobachtung ist, dass gerade Diagnosen wie AD(H)S oder Autismus-Spektrumsstörung enorm zuzunehmen scheinen – sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter. Das liegt mit Sicherheit daran, dass unsere Aufmerksamkeit für solche Themen mehr und mehr geschärft ist.
Die (eher spärlichen) aussagekräftigen wissenschaftlichen Studien, die es zum Thema Yoga und Neurodivergenz gibt, empfehlen zumindest bei AD(H)S Yoga und Meditation als therapiebegleitende Maßnahmen. (Eine bekannte Studie, die allerdings an Kindern durchgeführt wurde, findet ihr beispielsweise hier.)
Ich finde es beruhigend, dass unser Yoga, so wie wir es kennen, bei regelmäßigem Praktizieren über einen langen Zeitraum unterstützend wirken kann. Dabei ist es kein Allheilmittel und kann andere Maßnahmen nicht ersetzen. Wenn ich mir die Frage stelle, wie Yoga speziell bei Neurodivergenz wirkt, ist und bleibt die Antwort nicht sooo anders als die auf die Frage: (Wie) Wirkt Yoga? Trotzdem gibt es natürlich einige Ideen, weshalb Yoga auch konkret bei Neurodivergenz helfen kann und die möchte ich euch hier nicht vorenthalten:
Yoga fördert Achtsamkeit – ganz besonders die Achtsamkeit unserem eigenen Körper gegenüber. Wir lernen uns besser kennen und die Signale unseres Körpers zu verstehen. Wenn man aus Sicht der Polyvagal-Theorie sprechen möchte, können wir beispielsweise auch lernen zu sehen und zu fühlen, dass wir in vielen Situationen sicher sind.
Die ist gut für uns alle – auch bei Neurodivergenz können jede Art von Sport und Bewegung die Herzfrequenzvariabilität (HRV) erhöhen. So einfach wie möglich ausgedrückt, verfügen Menschen, die sich viel sportlich betätigen, über eine höhere Varianz ihrer Herzrate. Diese gibt – auch wieder in einfachen Worten – an, wie gut sich die Herzfrequenz durch Einflüsse des vegetativen Nervensystems (zum Beispiel an alle Arten von Belastungen) anpassen kann. Oder: Sie beschreibt, wie gut Sympathikus und Parasympathikus zusammenspielen.
Unser Wahrnehmen der Vorgänge im Körperinneren (Interozeption) kann im Yoga betont und gefördert werden – zum Beispiel durch ruhige Yogastile, Entspannungstechniken wie Yoga Nidra oder Meditation. Aber auch beim dynamischen Vinyasa Flow spielt sie dann eine wichtige Rolle, wenn wir den Blick mehr nach innen richten und uns nicht daran orientieren, wie ein āsana von außen aussieht – wichtig ist nur, wie es sich für uns anfühlt.
Man geht auch davon aus, dass die Propriozeption – also die Wahrnehmung dafür, wo sich all unsere Körperteile im Raum befinden – bei neurodivergenten Menschen unzureichend ausgeprägt sein kann: Daher kann es bei neurodivergenten Personen (besonders bei Kindern) unter anderem sehr hilfreich sein, beispielsweise das Gleichgewicht zu schulen. Klar, dass sich auch dafür unsere Yogapraxis bestens eignet.
Studien zufolge wird Meditation unter anderem mit einer Verbesserung des Lern- und Erinnerungsvermögens in Verbindung gebracht. Sie kann ebenfalls dazu beitragen, die HRV zu erhöhen, die Achtsamkeit für die Vorgänge im eigenen Körper und Geist zu steigern und die Lenkung unserer Aufmerksamkeit entscheidend zu verbessern. Sie kann neurodivergenten Menschen dabei helfen, sich über ihre Emotionen klar zu werden und dadurch eventuell ihre Selbstregulationsfähigkeit verbessern.
Zur Yogapraxis gehört seit jeher die intime Beziehung zu unserem Atem und die bewusste Einflussnahme auf seinen Rhythmus – wie wir es aus vielen Pranayama-Übungen kennen. Wir wissen heute, dass besonders langsames und tiefes Atmen sowie die Zwerchfellatmung uns dabei helfen können, unseren zehnten Hirnnerv, den berühmten Vagus- oder wandernden Nerv, zu aktivieren. Singen, summen, das Chanten von OM sollen alle den Vagustonus ansteigen lassen – ein Grund, weshalb beispielsweise die Bienenatmung (Bhramari pranayama) mit Vorliebe empfohlen wird. Generell dürfen wir davon ausgehen, dass eine verlängerte Ausatmung, also unter anderem jede Atembremse, positiv wirkt. Manche behaupten auch, dass die Vibrationen beim Summen und Chanten den Nerv direkt massieren. Aus diesem Blickwinkel empfiehlt sich dann natürlich auch Ujjayi Pranayama!
Diese Vorschläge sind eine kleine Auswahl von Yogatechniken, die bei Neurodivergenz sinnvoll sein können. Gleichzeitig möchte ich betonen: Im Grunde ist jedes Yoga an sich schon ein wunderbarer Weg! Dabei kann natürlich immer erst einmal die Schwierigkeit sein, dass gerade sehr aktive, eher gestresste oder nervöse Personen manchmal nicht so gut mit Stille, Ruhe, Innenschau zurechtkommen…
In der Coronazeit etablierte sich Online-Yoga sehr schnell als wirksame Variante zum Live-Yogaunterricht. Für manche lediglich eine Übergangslösung bis das Lieblings-Yogastudio wieder öffnete, für viele aber auch ein Geschenk, ohne Reize von außen (Musik, viele Leute, Unruhe im Raum, zu warm, zu kalt etc.) in einer ruhigen, heimischen Umgebung ganz für sich unter Anleitung praktizieren zu können.
Im englischsprachigen Raum habe ich viele Yogalehrer:innen oder -institutionen gefunden, die sich damit befassen, wie Yogaunterricht aussehen sollte, damit sich alle – neurotypische und neurodivergente – Teilnehmer:innen in den Stunden wohlfühlen. Dabei werden meist ganz konkrete Tipps (mit Neurodivergenz im Hinterkopf) gegeben: überschaubare Routinen einzuführen und beizubehalten, einen eher reizarmen Yogaraum in Bezug auf Geräusche, Licht, Gerüche, Assists/Berührungen zu schaffen, im Unterricht auf verschiedene Lerntypen Rücksicht zu nehmen – und ähnliche Vorschläge.
Die Hilfsmittel aus der Yogawerkzeugkiste können unterstützend wirken, das Leben auf allen möglichen Wegen der Nervensystem-Regulation angenehmer zu gestalten. Heißt: Ja, Yoga für alle, immer und überall! Beim »Wie« und »Was« dürfen Unterschiede gemacht werden. Das Ergebnis sollte immer nachhaltiges Wohlbefinden sein. Dabei macht natürlich neugieriges Ausprobieren Sinn. (Welche Yogasessions tun mir gut? In welcher Intensität, welche Atemübungen, welche Meditationen, in welcher Umgebung? Etc.) Bei Unsicherheit oder dauerhaftem Unwohlsein empfiehlt es sich, je nach Bedürfnis 1:1-Hilfe in Anspruch zu nehmen (z.B. Yogatherapie-Einzelstunde, Termin bei Psycholog:in).
Der Begriff »neurodivers« beziehungsweise »neurodivergent« in Abgrenzung zu »neurotypisch« ist wie oben erwähnt in Fachkreisen nicht unumstritten. Je länger ich mich jedoch selbst damit beschäftige, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, dass ich diesen Begriff sehr mag, da er im Gegensatz zu vielen »Labels« und Schubladendenken den Blick vor allem auf positive Aspekte und neue Möglichkeiten lenkt… echt Yoga, oder? Ich finde, dass Neurodivergenz gar kein Makel ist – und der Begriff der Neurodiversität endlich einen positiven Einzug in unser Alltagsdenken in vielerlei Systemen halten sollte! Tatsächlich gibt es sogar viele berühmte neurodivergente Personen, die vielleicht gerade durch die damit verbundenen Eigenschaften wie außerhalb der Box zu denken oder einen Hyperfokus einnehmen zu können, eine Art sechsten Sinn zu besitzen etc. in ihrem Leben ganz schön vorangekommen sind.
Trotzdem möchte ich am liebsten laut rufen: Wichtig! Wichtig! Ich verstehe den Begriff der Neurodiversität in keinster Weise so, dass psychische Erkrankungen klein geredet oder gar geleugnet werden sollen… mir geht es in diesem Artikel auch nicht darum, Diagnosen wie Autismus oder AD(H)S auszuschließen, wegzuwischen oder gar abzulehnen wie das vielleicht manche »Gegner der Pathologisierung« durchaus machen. Im Gegenteil: Ich finde den Ansatz gut, im Zusammenhang mit Yoga nicht zwischen einzelnen Diagnosen unterscheiden zu müssen, da Studien (manche mehr, manche weniger gut durchgeführt und aussagekräftig) darauf hinweisen, dass Methoden und Tools aus dem Yoga tatsächlich bei all diesen Erscheinungsformen dienlich sein könnten.
Ich habe eine Liste von YOGAMOUR-Videos für euch zusammengestellt, von denen ich glaube, dass sie bei Neurodivergenz besonders zu empfehlen sind. Ihr findet sie im Extra-Artikel Yoga-Programm für Balance und innere Ruhe – hilfreiche YOGAMOUR-Videos bei Neurodivergenz.
Lasst mir wie immer gerne unten Kommentare da. Wie geht es euch mit diesem Thema? Was wisst ihr und wie geht ihr damit um? Seid ihr oder kennt ihr Betroffene? Ich freue mich, von euch zu lesen!
Es gibt im deutschsprachigen Raum einige Verbände und Informationsportale, bei denen ihr nützliche Tipps findet, wenn ihr mehr über die einzelnen Diagnosen wissen möchtet oder bei euch/im näheren Umfeld Neurodivergenzen vermutet:
Bärbels derzeitige Lektüre-Empfehlungen zum Thema AD(H)S (schreibt gerne in die Kommentare, wenn ihr andere Buchempfehlungen habt):
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Veröffentlicht am 14. Juli 2024 | Geschrieben von Verena | Alle Artikel von Verena
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Liebe Verena, vielen Dank für diesen informativen Artikel. Ich habe im Arbeitsumfeld tatsächlich mit neurodivergenten Personen zu tun und erlebe, welchen Herausforderungen sie gegenüber stehen. Ich bin zwar nicht neurodivergent, aber hochsensibel und ich kann die Wirkung von Yoga auch für uns Feinfühlis, die du hier berschreibst, nur bestätigen 🙂 Ich persönlich schätze Online-Yoga sehr, weil ich dann für mich reizarm und zu passenden Zeiten üben kann… Liebe Grüße, Manuela
Liebe Manuela, sehr gerne! Ja, ich weiß gut, was Du meinst. 🙂 Auch Hochsensibilität als Thema liegt mir am Herzen und was ich bisher so darüber gelesen habe, ist wohl die Abgrenzung zu anderen Erscheinungsbildern wie beispielsweise AD(H)S ohne die hyperaktive Komponente, früher ADS, manchmal nicht ganz einfach. Auch deshalb mag ich persönlich „Neurodiversität“ sehr. Und auch ich finde mich in der Vorliebe für Online-Yoga wieder!
Ich schicke Dir ganz liebe Grüße,
Verena