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Yoga-Philosophie

Die Kraft der Gegenwart

Ein yogaphilosophischer Gastbeitrag von Julia Testor

von Bärbel

Die vergangenen Situationen und die Situationen, in denen wir künftig sein werden, sind alle in der gegenwärtigen Situation enthalten. Die scheinbare Einzigartigkeit einer Situation hängt mit der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Ausrichtung unseres Geistes zusammen.

(R. Sriram: Patañjali – Das Yogasutra, 4.12)

Im Zuge meiner diesjährigen Yogalehrer:innen-Ausbildung setzten sich die Teilnehmer:innen neben der āsana-Praxis intensiv mit dem Thema Yogaphilosophie auseinander. Die Frage »Wie kann ich die zum Teil jahrtausendealten philosophischen Ansätze in meinen westlichen Alltag übertragen?« durften sie mir anhand eines Yogasutras ihrer Wahl in einem kleinen, persönlichen Aufsatz beantworten.

So auch Julia Testor aus Koblenz, Sozialpädagogin, Mutter zweier erwachsener Söhne, Yogapraktizierende (seit über 20 Jahren), begeisterte Kletterin und Acro-Yogini. Sie schickte mir ihre fantastisch-inspirierenden Gedanken zu Sutra 4.12 – beim Lesen bekam ich mehrfach Gänsehaut. Doch lest selbst! Ab jetzt schreibt Julia:

»Vergangenheit und Zukunft spiegeln sich entsprechend der einzelnen Wesen in der Gegenwart wieder« (R. Sriram)

Warum habe ich dieses Sutra gewählt?

Beim Durchlesen und Durchblättern von Patañjalis Yogasutren hat mich dieses – 4.12 – gefangen genommen und auf eine stille, und eindringliche Weise berührt. Es ist kein Sutra, das sich sofort aufdrängt, sich durch einen moralischen Zeigefinger abhebt und auf gewisse Weise Vorgaben zur Lebensweise und Handhabung von Yogapraktiken gibt. Es ist vielmehr ein tief philosophischer Gedanke, der, wenn er sich entfaltet, in immer mehr Lebensbereiche hineinwirkt. Der Gedanke, dass Vergangenheit und Zukunft nicht voneinander getrennt existieren, sondern in der Gegenwart enthalten sind, ist, wenn gelebt, ein absoluter Gamechanger für das eigene Leben, für die Haltung im Alltag, in Beruf und Familie.

Es ist im Grunde ein uraltes und zentrales Motiv in der Yogaphilosophie und anderen Weisheitstraditionen. 
In der hinduistischen Mythologie etwa verkörpern die drei Hauptgötter der Trimurti genau diesen Zusammenhang: Brahma als Schöpfer steht für die Vergangenheit, Vishnu als Erhalter symbolisiert die Gegenwart, Shiva als Zerstörer und Transformator verkörpert die Zukunft. Diese Dreiheit hat mich schon immer fasziniert. Denn aufgewachsen in einer christlich geprägten Kultur, die mich stets fragend, verwirrt und trotzig zurückgelassen hat, habe ich hier begriffen, dass, symbolisiert durch die drei Gottheiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kein linearer Ablauf ist, sondern eine zyklische, gleichzeitige Wirklichkeit. Alles ist jetzt, je nachdem, wie wir ausgerichtet sind.

Wenn wir achtsam und bewusst in der Gegenwart leben, erschaffen wir nicht nur ein Heute, das stimmig ist, sondern auch eine Vergangenheit, an die wir gerne zurückdenken, und eine Zukunft, die sich auf natürliche Weise in Freude entfalten darf. Dieses Sutra bringt für mich auf den Punkt, worum es im Yoga letztlich geht: nicht um das Streben nach einem Idealzustand – sondern um das bewusste Erleben der Gegenwart als Quelle von Sinn, Heilung und Wandlung.

Die Ausbildung zur Yogalehrerin – eine Einladung zur Gegenwart

In unserer Yogaausbildung bei Bärbel schaffen wir genau diesen Raum: einen Ort der bewussten Präsenz, der Reflexion, der Verkörperung. Als Teilnehmerin und als Yogapraktizierende darf ich die Kraft des Moments erleben und darf mich freuen auf eine Aufgabe, die genau dies vermitteln soll. Denn mit dieser Ausbildung werden wir später lehren, was es heißt, im Moment zu sein. Wir lehren dann nicht nur āsanas, Atemtechniken oder Philosophie – wir lehren eine Haltung dem Leben gegenüber. Wir helfen Menschen, ihren Körper wieder als Zuhause zu erleben, den Atem als Anker und den Moment als Geschenk zu erkennen. Jeder bewusst erlebte Moment im Unterricht ist ein Beitrag dazu, Vergangenheit und Zukunft von uns selbst und unseren Schüler:innen mit Sinn und Freundlichkeit zu prägen.

Die abgelenkte Gesellschaft – und das stille Angebot des Yoga

Gerade in unserer westlichen Gesellschaft ist die Gegenwart bedroht – ich meine damit nicht durch äußere Feinde, sondern durch permanente Ablenkung. Social Media, Informationsflut, Optimierungsdruck und ständige Vergleichbarkeit nehmen uns die Fähigkeit, einfach nur zu sein. Statt bewusst im Jetzt zu leben, verlieren wir uns oft in der Bewertung des Vergangenen oder der Planung des Zukünftigen. 
Das Sutra 4.12 beschreibt hier ein radikales Gegenangebot, Rückkehr zu dem, was ist – ohne Ablenkung, ohne Urteil, ohne Flucht – und ist damit ein wertvoller gesellschaftlicher Beitrag: Jeder Moment echter Präsenz ist ein stiller Widerstand gegen die stetige Zerstreuung und gegen die Verflachung unserer Zeit.

Beruflich und privat – das Leben als Praxisfeld

In meiner Arbeit als Pädagogin an einer Förderschule erlebe ich täglich, wie stark Vergangenheit und Zukunft das Verhalten von Kindern und Jugendlichen beeinflussen – insbesondere dann, wenn diese schwer belastet sind. Doch ich sehe auch, wie heilsam es sein kann, ihnen einen Ort zu bieten, an dem sie für einen Moment einfach da sein dürfen, und sich dadurch vielleicht eine innere Ordnung auftut, die keine Worte braucht.

Auch in meinem persönlichen Leben – als verwitwete Mutter von zwei erwachsenen Söhnen, als Frau in einer Patchwork-Familie mit komplexen Dynamiken – ist die bewusste Gestaltung der Gegenwart ein täglicher und nicht einfacher Prozess. Es erfordert Mut und Willenskraft, sich den Herausforderungen zu stellen und zu erkennen, dass es nicht darum geht, Vergangenes zu verdrängen oder Zukünftiges zu kontrollieren, sondern darum, in dieser Gegenwart eine innere Haltung zu kultivieren, die heilend wirkt – für mich und mein Umfeld.

Fazit – Gegenwart als schöpferisches Tool

Patanjalis Sutra 4.12 zeigt mir: Alles, was ich bin, habe ich in jedem Moment zur Verfügung. Meine Vergangenheit wird durch mein heutiges Erleben gefärbt. Meine Zukunft wächst aus dem, was ich jetzt denke, fühle, entscheide. Als Yogalehrerin darf ich Menschen an diesen schöpferischen Punkt begleiten. Und je tiefer ich selbst darin verankert bin, desto klarer wird meine Ausrichtung – für mich selbst, für meine Schüler:innen und für das Leben, das durch mich wirken darf.

Was sind eure Gedanken zur Kraft der Gegenwart? Schreibt eure Ideen und Erfahrungen gerne unten ins Kommentarfeld!

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Veröffentlicht am 3. August 2025 | Geschrieben von Bärbel | Alle Artikel von Bärbel

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4 Kommentare zu "Die Kraft der Gegenwart"

  1. Marion sagt:

    Liebe Julia ❤️ auch von mir ein ganz herzliches Dankeschön für deinen wunderbaren Text, der mir einmal mehr die Augen für die Zusammenhänge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geöffnet hat, die ich in meiner Yogapraxis vor vielen Jahren als es mir sehr schlecht ging intuitiv gespürt und erfahren habe. Jetzt weiß ich einmal mehr, warum Yoga so heilsam ist. Wie schön, dass du dieses Wissen jweitergibst! Danke!!!! Viele liebe Grüße von Marion

    1. Julia sagt:

      Liebe Marion, vielen Dank für deine lieben Zeilen! Es freut mich riesig, dass mein Text dich berührt hat und dich an eigene tiefe Erfahrungen im Yoga erinnert. Danke, dass du das teilst.
      Liebe Grüße
      Julia

  2. Tina sagt:

    Liebe Julia,
    vielen Dank für deinen tiefsinnigen Text, deine inspirierenden Gedanken und deine klare Sicht auf den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Beim Lesen fühle ich mich absolut abgeholt und bin sehr berührt.
    Ich werde ihn noch öfter lesen… mit Sicherheit!
    DANKE!
    Liebe Grüße, Tina

    1. Julia sagt:

      Liebe Tina, danke für deine Worte! Es macht mich glücklich, dass mein Text dich auch weiter begleiten darf.
      Ganz liebe Grüße
      Julia

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